
15
Es dauerte die gesamte Zugfahrt von Rom nach Onano, der Stadt in Norditalien, die am nächsten an Cyrenes Quelle lag, um aus Maata herauszubekommen, was Sally in der Suite machte, die Gabriel für uns alle in einem Pariser Hotel gebucht hatte.
»Bevor ich es dir erzähle, musst du mir erst eine Frage beantworte «, sagte sie lachend, als wir uns auf unseren Plätzen niederließen. Cy und ich saßen nebeneinander an einem Tisch, und Maata saß uns gegenüber.
»Oh, Essen! Ich bin am Verhungern! Ich hole uns etwas«, sagte Cyrene, die einen Sandwich-Verkäufer entdeckt hatte, der am Zug entlanglief.
»Am Ende fährt der Zug noch ohne dich ab«, sagte ich zu ihr. Sie verdrehte nur die Augen und rannte hinaus.
»Was wolltest du denn wissen?«, fragte ich Maata, während ich mit einem Auge meinen Zwilling beobachtete.
»Hast du Sally am Telefon bedroht?«
»Bedroht?« Ich räusperte mich. »Warum sollte ich sie bedrohen?«
Maata lächelte wissend. »Weil sie zu Gabriel gerannt ist und ihm gesagt hat, er mache einen großen Fehler. Du seist definitiv dazu bestimmt, die Gattin eines Dämonenfürsten zu sein.«
Ich lehnte mich entspannt zurück, als Cyrene wieder in den Zug stieg, voll bepackt mit kleinen Sandwich-Päckchen und Wasserflaschen. »War das bevor oder nachdem sie ihm einen Antrag gemacht hat?«, scherzte ich.
»Danach«, erwiderte Maata. Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, lachte sie. »Oh, keine Sorge, deine Position als Gabriels Gefährtin ist unantastbar. Drachen paaren sich fürs Leben, weißt du. Selbst wenn er wollte, könnte er dich nicht verlassen, und glaub mir, er hat anderes im Kopf als Affären.«
»Ich zweifle nicht an Gabriels Treue«, sagte ich und blickte aus dem Fenster, als der Zug aus dem belebten Bahnhof herausrollte. Ich hatte auf einmal das Bedürfnis, Maata meine Sorgen und Ängste anzuvertrauen. Ich suchte verzweifelt nach Bestätigung, dass ich mich nicht an das Drachenherz verlor, dass Gabriel nicht nur deswegen so fest an mich gebunden war. Leidenschaft ließ nach; das hatte ich oft genug bei Cyrenes Liebesaffären gesehen. Wer wusste denn schon, ob die sexuelle Anziehung, die Gabriel bei mir verspürt hatte, jetzt nicht nur die Reaktion auf das Stück Drachenherz in mir war?
»Da bin ich wieder. Mayling, du brauchst gar nicht so böse zu gucken. Ich habe dir ein Hühnchen-Sandwich mitgebracht, weil ich weiß, dass du keine Säugetiere isst. Und, was habe ich verpasst? Hast du Maata erzählt, wie du dieser Dämonenfürstin gedroht hast, ihr die Haare abzuschneiden und sie ihr aufs Hinterteil zu kleben?«
Maata verschluckte sich fast an dem Schluck Wasser, den sie gerade getrunken hatte. »Damit hast du Sally bedroht?«, fragte sie.
»Achte nicht auf das, was Cyrene sagt«, erwiderte ich ruhig und nahm das Hühnchen-Sandwich. »Sie ist sauer, weil sie sich die Sporen neu verdienen muss. Sozusagen.«
»Wenn du dich bei Neptun geschickter verhalten hättest, hätte er mir auf der Stelle meinen Status zurückgegeben!«, murrte Cyrene. »Ehrlich, wozu ist es denn gut, einen Zwilling zu haben, der die Gattin eines Dämonenfürsten und Gefährtin eines mächtigen Wyvern ist, wenn er einem nicht mal bei ein paar kleinen Problemen helfen kann?«
»Mit der Liste der paar kleinen Probleme, bei denen ich dir schon geholfen habe, könnte man Bücher füllen«, antwortete ich. Ich nickte Maata zu. »Du wolltest uns erzählen, was Sally da macht.«
»Sie behauptete, Magoth hätte ihr aufgetragen, dich ein bisschen zu belästigen. Er meinte, du und er, ihr könntet euch ihre Lehrzeit sozusagen teilen. Da sie eine Woche bei ihm war, bist offensichtlich du jetzt an der Reihe. Als sie mitbekam, dass ich dich hier in Rom treffen soll, habe ich sie kaum davon abhalten können, mir zu folgen.«
»Hat sie gesagt, was Magoth so macht?«, fragte ich. Nachdenklich kaute ich mein Sandwich. Sally bereitete mir keine allzu großen Sorgen - als Lehrling besaß sie so gut wie keine Macht - , aber dass ich in den letzten Tagen nichts von Magoth gehört hatte, beunruhigte mich.
»Nein, nicht wirklich; nur, dass er noch in Paris ist und an etwa einem Dutzend Plänen arbeitet.«
»Was für Pläne?«, fragte ich.
Maata zuckte mit den Schultern. »Das hat sie nicht gesagt, aber Gabriel war nicht beunruhigt, und du brauchst es wohl auch nicht zu sein. Magoth steht unter Beobachtung und hat bis jetzt nichts getan, was Anlass zur Sorge geben könnte.«
»Noch nicht«, erwiderte ich und trommelte mit den Fingern auf der Wasserflasche.
»Ich sehe das genauso wie Maata. Du machst dir unnötig Sorgen. Du hast doch selbst gesagt, dass er hier machtlos ist«, warf Cyrene ein.
»Er kann vielleicht nicht Chaos und Zerstörung anrichten, wie er es gerne täte, aber das bedeutet noch lange nicht, dass er völlig harmlos ist. Und er ist erfinderisch. Ich kann nur hoffen, dass er keine Machtquelle findet, an die wir nicht gedacht haben.«
Während der Zugfahrt plauderte Cyrene mit Maata über alles Mögliche. Ich verbrachte die zwei Stunden nach Onano mit sorgenvollen Gedanken über das Stück Drachenherz und der Frage, wie ich Magoth am besten dazu überreden konnte, mir bei Chuan Rens Freilassung aus Abbadon behilflich zu sein.
Im letzten Tageslicht untersuchten wir Cyrenes Quelle, um festzustellen, wie verschmutzt sie tatsächlich war, und was Cyrene unternehmen musste, um »Big Mama«, oder Mutter Erde, zurückzugeben, was sie ihr genommen hatte. Als wir gemeinsam mit Cyrene einen Plan entworfen hatten, der Neptun hoffentlich beeindrucken würde, ging bereits die Sonne unter, und wir eilten erschöpft in die Stadt zurück, um ein Hotel zu finden und etwas Warmes zu Abend zu essen.
»Sie hatten nur zwei Zimmer«, berichtete Maata und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Wir hatten uns vor einem Cafe am Stadtrand niedergelassen. »Ich habe mir gedacht, dass ihr wahrscheinlich in einem Zimmer schlafen wollt, aber wenn du lieber ein Zimmer für dich hättest, May...«
»Nicht nötig«, unterbrach ich sie und nahm dankbar einen großen Gin Tonic von dem gut aussehenden Kellner mit blitzenden schwarzen Augen entgegen. »Cyrene und ich haben schon öfter in einem Zimmer geschlafen. Und außerdem schnarcht sie. Du würdest neben ihr kein Auge zukriegen.«
»Ich schnarche!«, sagte Cyrene empört. »Na, das ist ja typisch! Du schnarchst, dass du Dächer zum Einstürzen bringst!«
»Sei nicht albern. Doppelgänger können nicht schnarchen. Das weiß doch jeder...« Ich brach ab, als ich einen Mann über den Platz kommen sah. Es war mittlerweile richtig dunkel geworden, und obwohl die Lichter aus den Cafes und Läden auf den Platz fielen, war dessen Mitte in tiefschwarze Dunkelheit gehüllt. Paare schlenderten durch die Gegend, Jugendliche, die in Grüppchen zusammenstanden, lachten, und spielende Kinder liefen über den Platz. Es war eine typisch italienische Szene, nichts war ungewöhnlich, und trotzdem läuteten auf einmal sämtliche Alarmglocken bei mir.
Der Mann mit den dunklen Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, überquerte den Platz und blieb in der Mitte, wo es am dunkelsten war, stehen. Eine Frau mit Haaren in der Farbe eines glänzenden Kupferpfennigs kam aus einer Gasse auf ihn zu. Sie redeten kurz miteinander, dann gingen sie zu einem kleinen Sportflitzer, der in einer Nebenstraße geparkt war.
»Hast du die Autoschlüssel?«, fragte ich Maata und beobachtete aus zusammengekniffenen Augen den Mann, der gerade ins Auto stieg.
»Ja. Willst du sie haben?« Sie kramte in ihren Taschen.
»Bleib hier«, befahl ich Cyrene und ergriff meine Handtasche.
Ich nahm ein paar Münzen heraus, warf sie auf den Tisch und schnappte mir die Autoschlüssel.
»Wohin gehst du?«, fragte Cyrene stirnrunzelnd.
»Ich weiß nicht. Ich sehe jemanden, der mir bekannt vorkommt, und ich möchte gerne wissen, wo er hinfährt. Bleib hier. Ich rufe dich an und sage dir Bescheid, wo ich bin.«
»Das glaubst du doch selber nicht!« Sie ergriff Jacke und Tasche und folgte mir. Maata erhob sich ebenfalls.
Ich warf ihnen einen aufgebrachten Blick zu. »Das könnte gefährlich werden...«
»Kannst du dir vorstellen, was Gabriel mit mir machen würde, wenn er herausfände, dass ich dich allein gelassen habe?«
Maata blickte mich streng an. Ich hatte keine Zeit, ihr zu widersprechen. Das Auto war bereits losgefahren. Ich stürzte zu unserem Leihwagen und rief den beiden zu: »Ich fahre; ihr behaltet den blauen Alfa Romeo im Auge.«
»Du bist eine Doppelgängerin - du kannst im Dunkeln wahrscheinlich besser sehen als ich«, antwortete Maata. »Ich fahre und du navigierst.«
»Gute Idee.« Ich warf ihr die Schlüssel zu und schwang mich auf den Beifahrersitz.
»Ich helfe euch!« Cyrene warf sich auf den Rücksitz, und Maata fuhr los.
Ich musste mich schon sehr konzentrieren, um das Auto nicht aus den Augen zu verlieren, während es durch die gewundenen Straßen im Zentrum fuhr, aber schließlich ließen wir die Stadt hinter uns und fuhren auf einer Autobahn in südöstlicher Richtung.
»Wer ist dieser Mann, dem du so unbedingt folgen willst?«, fragte Maata leise, während Cyrene mit ihren besorgten Najadenschwestern telefonierte. Ich blickte nach hinten. Cyrene berichtete gerade von unserem Besuch bei Neptun und achtete wahrscheinlich gar nicht auf uns.
»Ich glaube, es ist derselbe Mann, der mir in dem Hotel in Paris in die Schattenwelt gefolgt ist.«
»Was?«, schrie Maata.
Sie trat so heftig auf die Bremse, dass der Wagen sich einmal um die eigene Achse drehte und es nur ihren Fahrkünsten zu verdanken war, dass wir nicht in den Gegenverkehr gerieten.
Cyrene schrie auf, weil sie von ihrem Sitz gerutscht war. Zum Glück waren die Autos hinter uns weit genug entfernt, sodass nichts passierte. Hupend und schimpfend fuhren sie an uns vorbei, und ihre Gesten ließen wenig Zweifel daran, was sie von Frauen am Steuer dachten.
»Im Namen der sieben Meere, was ist bloß los mit dir?«, schimpfte Cyrene und rappelte sich auf. »Mein Handy hätte kaputtgehen können! Und wahrscheinlich habe ich jetzt aus Versehen die Verbindung zu Thalassa unterbrochen, und sie ist die Chefin der Najaden.«
Maatas Augen waren nicht so hell wie Gabriels, aber jetzt glitzerten sie gefährlich. »Nein«, sagte sie entschieden.
»Wir müssen aber«, widersprach ich und deutete auf die Rücklichter, die in der Dunkelheit verschwanden.
»Wir werden Baltic nicht verfolgen!«
»Du weißt ja gar nicht, ob er es ist«, erwiderte ich frustriert.
»Baltic!«, keuchte Cyrene. »Der tote Typ?«
Maatas Augen glühten in der Dunkelheit. »Gabriel würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich dir bei der Verfolgung von Baltic behilflich bin.«
»Ach was«, erwiderte ich entschlossen. »Er würde zwar nicht glücklich darüber sein, aber umbringen würde er dich nicht. So etwas macht er nicht.«
Maata presste die Lippen zusammen. »Nein, er würde mich nicht körperlich verletzen. Aber er wäre so enttäuscht von mir, dass ich mich zu Tode schämen würde. Ich kann es nicht, May. Bitte mich nicht darum.«
»Na gut«, sagte ich. Ich stieg aus und lief auf die Fahrerseite.
»Rutsch rüber. Ich fahre. Meinetwegen kann Gabriel so sauer sein auf mich, wie er will - ich lasse diesen Kerl nicht noch einmal entwischen.«
Maata wollte sich weigern, aber ich gab ihr gar keine Chance. Sie mochte ja einen Kopf größer und etliche Kilo schwerer sein als ich, aber ich schob sie einfach mit der Schulter auf den Beifahrersitz und fuhr los.
»Cyrene, schau mal auf die Karte«, sagte ich. Ich schaltete die Innenbeleuchtung ein und drückte aufs Gaspedal, um den anderen Wagen wieder einzuholen. »Sieh mal nach, ob irgendein größerer Ort in der Nähe ist.«
»In etwa sieben Kilometern kommt Santa Cristina.« Cyrene hob den Kopf und lächelte glückselig. »Der Ort liegt an einem See, der von meiner Quelle gespeist wird. Ich kann rasch hinlaufen und ihn entgiften, dann kann ich schon mal einen Punkt von der Liste streichen. Oh! Ich rufe besser Thalassa noch einmal an.«
Maata zog scharf die Luft ein bei Cyrenes Worten, aber ich konnte nicht weiter darauf eingehen, weil ich mich auf die Verfolgungsjagd konzentrieren musste.
»Was ist denn in Santa Cristina?«, fragte ich Maata.
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Fiat Blu wohnt dort«, sagte sie schließlich.
»Oh, wirklich? Das ist ja äußerst interessant.« Meine Gedanken überschlugen sich, während wir durch die Nacht rasten. Hoffentlich gab es hier keine Polizeikontrollen, denn wenn es nicht gerade einen Atomkrieg gab, würde ich nicht anhalten.
Was tat Baltic - wenn er tatsächlich der mysteriöse Drache war - auf Fiats Gebiet? Und wenn er es war, wie um alles in der Welt war er von den Toten wiederauferstanden? Ich hatte jedoch keine Zeit, über diese Fragen nachzudenken, denn da war bereits die Ausfahrt nach Santa Cristina. Der Sportwagen war nirgendwo zu sehen.
»Was meint ihr? Sollen wir es wagen, die Ausfahrt zu nehmen, oder sollen wir auf der Autobahn bleiben und versuchen, ihn einzuholen?«, fragte ich und überholte einen langsamen Wagen, der mitten auf der Fahrbahn fuhr.
»Fahr ab, fahr ab!«, rief Cyrene, die schon wieder vom Sitz gerutscht war. »Ich werde einen riesigen blauen Fleck bekommen!«, beschwerte sie sich.
»Ich finde, es ist ein Zufall, den man nur schwer ignorieren kann«, sagte Maata.
Der Meinung war ich auch, und so bog ich in der letzten Minute in die Ausfahrt ein.